Mario Röhrle

Metaphern des Vergessens und der Memoria

Metaphern des Vergessens

Für viele Metaphern des Vergessens lassen sich Landschaftsbezüge konstruieren. Die meisten Bezüge finden sich zum Wasser. Diese entspringen dem Unterweltfluss Lethe, aus dem die Verstorbenen langes Vergessen trinken.1 Dieser Strom des Vergessens (auch die Fluten des Vergessens) weitet sich zum grenzenlosen Meer oder Ozean des Vergessens.2 In diesem Wasser versinken die Erinnerungen nicht nur, aus ihnen erhebt sich auch eine weitere Metapher des Vergessens: der Schleier. Dieser, dem Dunst und Nebel ähnlich, bedeckt die Wahrheit und die Erkenntnis ebenso wie diese vom Mantel des Vergessens ver- oder umhüllt werden. Auch senkt sich der Schleier des Vergessens vermittelt durch Drogen (wie dem Alkohol als Trank [oder Trunk] des Vergessens) auf die Erinnerung und benebelt das Gedächtnis. Weitere Landschaftsbezüge finden sich im Sand und der Wüste,3 dem Wind4 und dem Gras, das über eine Sache wächst. Die nordische Mythologie kennt das Tal des ewigen Vergessens, worin sich wahlweise auch vergessene Völker, untergegangene Kulturen und sagenumwobene Schätze finden lassen. In dieses lässt es sich zwar hinuntersteigen, doch meist wartet dort der Tod wie auf die Entdecker des Grabs des Tut-Ench-Amun,5 doch sollte das Ausgraben und Emporsteigen gelingen kommt nicht selten Vergessenes wieder an das Licht.6 Oft steht den in die Tiefe ziehenden Bewegung der Strudel und den tiefen Brunnen der Vergangenheit ein gereinigtes (Wieder)-Auftauchen gegenüber.7 Hierbei spielt letztlich auch die Zeit eine Rolle, ist sie doch sowohl Freund als auch Feind des Vergessens. Mit der Zeit wird alles vergessen, doch ist es auch die Zeit, die die Wahrheit aus der Tiefe des Vergessens, der Höhle oder dem Meer, wieder (zurück) an die Oberfläche holt.8

Metaphern der Memoria9

Grundsätzlich können zwei verschiedene Metaphern des Gedächtnisses und der Erinnerung unterschieden werden. Zum einen ist dies die Metaphern des Magazins, der Schubladen und der Register, die sich auf das Gedächtnis als ein Künstliches (und durch Mnemotechnik geschultes) beziehen. Dieses Bild basiert seit der Antike, gegründet auf den Annahmen der Rhetoriker und deren Gedächtniskunst, in der Lokalisierung von Gedächtnisinhalten, repräsentiert durch Gedächtnisbilder, an klar bezeichneten Orten in einem Gebäude oder einer Landschaft, die dabei als Stellvertreter des Gedächtnisses auftreten. Zwar hat sich durch die Erkenntnisse der Hirnforschung die enge Lokalisierung von Gedächtnisinhalten aufgelöst, die Idee und Technik der bildlichen Repräsentation bleibt weiterhin aktuell.10 Die zweite Metapher besetzt die Erinnerung (meint dabei meist die subjektive, persönliche Erinnerung) mit dem Bild der Wachstafel wie es in Platons Theaitetos als das die Seele überziehende Wachs, einem Geschenk der Mnemosyne an den Menschen, vorgestellt wird.11 Auch diese Metapher erfuhr im Laufe der Zeit infolge des Medienwandels einige Abwandlungen, hat sich aber sowohl als Bildfeld, als auch in der Sprache bis heute erhalten.12

Daneben finden sich noch eine große Anzahl weiterer Metaphern der Memoria, wie das Tuch, das Wiederkäuen oder der Magen,13 die aber allesamt in bedeutend geringerer Zahl als die Magazin- und Wachstafelmetaphern anzutreffen sind. Angemerkt sei diesbezüglich jedoch, dass die beiden zuletzt genannten Metaphern neben dem Prozess der Aufbewahrung auch die Dimension der Zeit mitbetonen. Bemerkenswert ist dies, da die Zeit für das Erinnern und Vergessen eine gewisse Bedeutung zu spielen scheint und demzufolge nicht als vernachlässigbarer Faktor angesehen werden sollte.14

Die Ursprungsversion diese Textes stammt von 2001. Die letzte überarbeitung von 2012.

1 Ebenso ist Lethe die Tochter der Eris (der Zwietracht) und als griechische Gottheit die Gegenspielerin der Mnemosyne, der Göttin des Gedächtnisses und Mutter der Musen (siehe hierzu: Platon: Theaitetos. 191 c–d).

2 Es existiert auch ein «Ozean der Weisheit» der alles in sich sammelt; denn so lautet die wörtlichen übersetzung des vom Mongolenherrscher Altan Khan verliehenen Ehrentitels «Dalai Lama».

3 Es wird in den Sand geschrieben und unliebsame Zeitgefährten werden in die Wüste geschickt (wie beispielweise in dem Film Beau Travail [1999] von Claire Denis).

4 In den Wind wird wiederum geschrieben (vergleiche Anmerkung 3) und, in einer vom Vergessen leicht abgerückter Bedeutung, auch gerufen. Erfolg- und tränenreich wurde und wird Vom Winde verweht (Gone with the Wind [1939] von Victor Fleming) wohingegen der Wind of Amnesia (Kaze no na wa amunejia [1993] von Kazuo Yamazaki) gleich die gesamte Menschheit von einer außerirdischen Macht zu Testzwecken in ein vorkulturelles Stadium versetzt. In dem österreichischen Boulevardblatt Neue Kronen Zeitung wird täglich von Wolf Martin mit gegensätzlicher Intention populistisch «In den Wind gereimt».

5 So will es jedenfalls der Aberglaube des Pharaonenfluchs.

6 Sei es Troja, ein Dinosaurierskelett oder ötzi.

7 Als Beispiel mag die christliche Taufe dienen. Dort kommt es durch das Ein- und Auftauchen zum Vergessen der Erbsünde. ähnliches mag für der Anamnesis-Theorie Platons gelten.

8 Zur Metapher des Vergessens siehe: Rigotti, Francesca: Schleier und Fluß – Metaphern des Vergessens. In: Michael Buchholz (Hg.): Metaphernanalyse. Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 1993; Zur Metapher des Schleiers siehe: Wittmann, Barbara (Hg., o.J.): Schleier. Bild–Text–Ritual. ‹http://www.uni-trier.de/…/symp.html› [UPDATE: ‹http://web.archive.org/…/symp.html›]. Dort findet sich auch eine Bibliographie zum Thema Schleier; Zur Metaphorik von Landschaften vergleiche: Schmauks, Dagmar (1996): Weg-, Wander- und Landschaftsmetaphernhttp://www.coli.uni-sb.de/…/Schmauks1996b.ps.gz› [UPDATE: ‹http://www.coli.uni-saarland.de/…/Schmauks1996b.ps.gz›].

9 Diese Darstellung folgt: Weinrich, Harald (1964): Metaphora memoriae. In: Ders.: Sprache in Texten. Stuttgart (Klett) 1976, Seite 291–294

10 So zum Beispiel in den Schilderungen der modernen «Gedächtniskünstler» und «Gehirnakrobaten» in diversen Unterhaltungssendungen («Wetten dass…») und Talkshows; siehe auch den Bericht über die Schauspielerin und Moderatorin Verona Feldbusch Pooth: Mensch, Verona, hast du viel Grips – Wie Dr. Gunther Karsten ihr Gedächtnis auf Touren brachtehttp://www.express.de/news/2365543.html› [UPDATE ‹http://web.archive.org/…/2365543.html›]. In der grenzüberschreitenden (populär-)wissenschaftlichen Literatur finden sich Kapitelüberschriften wie Was wir bewusst sehen, sind ‹Gedächtnisbilder› (Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt am Main [Surkamp] 1997) oder Die Entstehung von Wahrnehmungsbildern und Speicherung von Vorstellungsbildern und Abruf von Erinnerungsbildern (Damasio, Antonio R.: Descartes‘ Irrtum. München [Deutscher Taschenbuch Verlag] 1998)

11 Vergleiche Anmerkung 1

12 Zu nennen wären hier weitere schriftbasierte Metaphern, wie beispielsweise das Buch, das Palimpsest oder der Fotoapparat, die sich an die Wachstafelmetapher anschließen.

13 Beispielsweise Augustinus: Bekenntnisse, X, 14: «Das Gedächtnis ist gleichsam der Magen der Seele, Freude aber und Trauer wie süße und bittere Speise; einmal dem Gedächtnis übergeben, sind sie wie in den Magen eingegangen, der sie verwahren, aber doch nicht schmecken kann. […] Vielleicht also wie beim Wiederkäuen die Speise aus dem Magen, kommen auch diese Dinge beim Erinnern aus dem Gedächtnis hervor.»

14 Siehe oben. Ausführlicher hierzu bei Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München (Beck) 1999, Seite 165–178

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